Die Vision der Solarpunk-Bewegung
Was würde geschehen, wenn alle Menschen kostenlos, sauber und nachhaltig mit Energie versorgt werden?, fragt sich die Solarpunk-Bewegung. Deren Vordenker Jay Springett würde gern die Apokalypse canceln.
Ohne Unterlass arbeitet der Fusionsreaktor im Zentrum unseres Sonnensystems, er verwandelt Wasserstoff in Helium und setzt damit eine unfassbare Energiemenge frei. Was davon nach acht Minuten Reise durchs Weltall auf der Erde ankommt, ist immer noch 10 000 Mal mehr, als die gesamte Menschheit aktuell benötigt, um zu heizen, zu kochen, Güter zu transportieren, Computer zu betreiben oder das Licht anzuschalten. Es ist Energie im Überfluss, klimaneutral erzeugt, für jede und jeden verfügbar.Würde diese Energie konsequent genutzt und an alle verteilt, dann hätte das gewaltige Auswirkungen darauf, wie Menschen zusammenleben, wie Macht und Wohlstand unter ihnen verteilt sind – und natürlich auch wie es dem Planeten Erde und seinem Klima ergeht. Niemand müsste mehr Kriege um Energiequellen führen. Alle Menschen wären unabhängig von Konzernen und Gewinnstreben. Und rund um den Globus könnten sich Gesellschaften für Basisdemokratie, Inklusion und Diversität entscheiden – sowie für ein Leben im Einklang mit dem Planeten, anstatt wie eine Krankheit darüber herzufallen, seine Ressourcen leerzusaugen und seine Atmosphäre mit Kohlendioxid zu vergiften. Schöne, aber doch ziemlich utopische Vorstellung?
„Wie sieht eine nachhaltige Zivilisation aus, und wie können wir dort hingelangen?“
Nein, machbar! Sagt Jay Springett. Der 38-jährige Brite, roter Vollbart, schneller Denker, bestens gelaunt, ist eine der führenden Stimmen der Solarpunk-Bewegung – auch wenn er dieser Bezeichnung gleich erst mal freundlich, aber bestimmt widerspricht: „Solarpunk ist eine Community-Angelegenheit, es gibt dabei viele unterschiedliche Stimmen, und ich möchte und kann überhaupt nicht für das Ganze sprechen.“ Die Idee Solarpunk wurde vor mehr als zehn Jahren in den Eingeweiden des Internets geboren, auf Tumblr-Blogs, Pinterest, Twitter oder den Messageboards von abgelegenen Foren. Ihre Wurzeln liegen in der Science-Fiction- Literatur, inzwischen ist sie aber weit mehr als das: eine ästhetische Strömung, eine Grundhaltung, eine Denkschule. „Wie sieht eine nachhaltige Zivilisation aus, und wie können wir dort hingelangen?“, so skizziert Springett die Grundfrage. Ideen dazu, welche Auswirkungen vor allem kostenlose Energiequellen auf die menschliche Gesellschaft haben könnten, darf jede und jeder in die Solarpunk-Diskussionen einspeisen. Das inspiriere dann Springett zufolge ganz real andere Menschen – Privatpersonen, aber auch Vordenker:innen und Entscheider:innen. Springett nennt Solarpunk darum einen „memetischen Antrieb“, der unsere kollektive Vorstellungskraft wieder auf die Zukunft ausrichten könne. Auf eine nachhaltige, saubere und glückliche Zukunft.
Selbst etwas auf die Beine stellen
Solarpunk-Vordenker Jay Springett hat schon als Grundschüler Mitte der Neunziger seine Schulverwaltung dazu bewogen, ein Recyclingsystem für Getränkedosen einzuführen. Und spätestens mit dem Dokumentarfilm „An Unconvenient Truth“ des ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore 2006 wurde er nach eigener Aussage zum Klimaaktivisten. Parallel dazu legte Springett zwei Karrieren hin, die vermutlich bis heute seine Arbeit für die Solarpunk-Bewegung beeinflussen. So nahm er Gitarrenunterricht und landete schließlich in der Hardcorepunk-Szene, die in den Nullerjahren in seiner Heimat im Südwesten Englands blühte. Hier wird das Do-it-yourself-Ethos hochgehalten: selbst Platten veröffentlichen, selbst Fanzines drucken, selbst Konzerte organisieren. Und wie überall in der Provinz passiert in Südwest-England nicht viel, wenn man es nicht selbst organisiert. So lernte Springett, der bis heute in einer Band spielt, dass solche basisdemokratischen Graswurzelszenen viel auf die Beine stellen können. Außerdem stolperte er nach seinem Philosophie- und Musikstudium ungeplant in eine Karriere als Technologie- und Strategieberater für große Industriekonzerne.
Heute steht er als Spezialist für geistiges Eigentum Computerspielproduzenten oder Filmstudios zur Seite, wenn diese etwa beliebte Buchinhalte adaptieren wollen. Außerdem beschäftigt er sich gern mit der neuen dezentralen Internetstruktur des „Distributed Web“, mit Kryptowährungen oder dem Metaverse. „Ich schätze, ich war schon immer ein Nerd“, sagt Springett und lacht sein verschmitztes Lachen.
Ein ganzer Funkenregen an Ideen
Auf Solarpunk stieß der Brite vor etwas mehr als zehn Jahren, er las darüber auf einer Mailingliste für Künstler:innen und Designer:innen, Comic-Autor:innen und Poet:innen. „Und ich bin sofort darauf angesprungen“, erinnert er sich. Der Begriff erklärte sich ihm als Science-Fiction-Fan von selbst – und zündete in seinem Kopf einen ganzen Funkenregen an Ideen. Denn der Ausdruck bezieht sich auf die beliebten Science- Fiction-Strömungen Steampunk und Cyberpunk. Erstere ersinnt Alternativrealitäten mit den technischen Mitteln des viktorianischen Zeitalters. Vor allem die Dampfmaschine gilt hier als zentrale Technologie, die sogar Raumschiffe bewegt, daher der Name. Es ist eine ganze Subkultur, die sich mit Kolben, Zylindern und Schwungrädern der Gegenwart verweigert. Dem gegenüber steht der in den 1980ern entstandene Cyberpunk, dessen grundlegende Gedankenfigur es ist, dass Menschen von überm.chtigen Computern und Konzernen kontrolliert werden. Cyberpunk ist dreckig, dystopisch, hoffnungslos – und bis heute die vorherrschende Ästhetik, wenn sich Science-Fiction mögliche Zukunftsvisionen ausdenkt. Cyberpunk entstand an der Schwelle des Computerzeitalters, als die Preise für Computerchips sanken und sich immer mehr Privathaushalte einen Heimcomputer zulegten. Analog dazu wurden in den Nullerjahren Solarzellen immer preiswerter, während die Diskussion um den Klimawandel Fahrt aufnahm. Im Mai 2008 schlug dann ein bis heute anonymer Blogger erstmals den Namen für ein neues Science- Fiction-Genre vor: „Solarpunk“. „Es sind fiktionale Spekulationen darüber, wie die Zukunft aussehen könnte, wenn Energie sauber wäre und gerecht verteilt würde“, sagt Jay Springett.
Angewandter Utopismus
Inzwischen drückt sich die Solarpunk-Community im Internet auch über Moodboards, Architekturentwürfe oder Grafikdesign aus. Da schweben dann gigantische Windturbinen wie freundliche Ufos am Himmel, darunter grasen Schafe friedlich vor rasenbedeckten Ställen und Häusern. In solchen Szenen kommt einiges zusammen, was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag: Hightech und Holzhaus, Futurismus und tradierte Lebensweise, gestern und morgen. Andere Bilder, die online zu finden sind, zeigen Städte, die in einem Dschungel versunken zu sein scheinen, darin wie organisch gewachsen aussehende Wolkenkratzer, urbane Obstgärten in geodätischen Kuppeln oder Schwebebahnen in grüner Landschaft. Auf diese Weise zeichnet Solarpunk eine Zukunft, in der die Grenzen zwischen Stadt und Land, Natur und Technologie fließend sind und in der glückliche Menschen nachhaltig leben. „Angewandter Utopismus“, so nennt Jay Springett diese Szenarien. Schließlich gebe es die Technologien bereits, die dafür notwendig wären – von klimaneutraler Energieerzeugung und emissionsfreier Mobilität über Nanotechnologie und Robotik bis hin zu künstlicher Intelligenz. „Das Ziel von Solarpunk ist es, die Apokalypse zu canceln“, erklärt Springett. Solarpunk könne die Menschen dazu bringen, wieder über Möglichkeiten nachzudenken – und sich dem Klimawandel aktiv entgegenzustellen. Aber was genau daran ist eigentlich „Punk“? „Ein freudvolles Leben auch im Angesicht von mächtigen Widersachern und scheinbar unlösbaren Problemen zu führen“, sagt Springett. Außerdem natürlich das Denken und Handeln abseits von Konventionen sowie die Do-it-yourself-Kultur, bei der Menschen Sachen selbst in die Hand nehmen. Natürlich, gibt Springett zu bedenken, komme eine gewaltige Krise auf uns zu, es werde nicht einfach werden. Er erwartet das Ende der Moderne, die wir mitfühlend in ihren Tod geleiten sollten, um den Weg freizumachen für Neues. Aber Solarpunk sei nicht naiv und nicht grundlos optimistisch. So seien etwa die Preise für regenerativ erzeugte Energie seit der ersten Erwähnung von Solarpunk vor mehr als zehn Jahren weiter rasant gefallen. „Und das“, sagt Jay Springett und lächelt fröhlich unter seinem Bart, „macht doch wirklich Hoffnung."
Jay Springett
Der Brite, 38, ist einer der Vordenker der weltweiten Solarpunk-Bewegung. Als unabhängiger Strategieberater arbeitet er unter anderem für Computerspiel-Produzenten oder Filmstudios. Nebenbei spielt Springett in der „Slow & Sad Country Band“ Forest Bed, die demnächst ihre erste Single veröffentlicht.