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Kann Optimismus schädlich sein?

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Toxic hier, toxic dort. Vor alle möglichen Substantive kann man heute das Wort „giftig“ knallen und schon haben wir eine Gesellschaftskritik. Die sogenannte „Toxic Positivity“ ist die neueste Wortschöpfung, hinter der sich dennoch eine nicht unwichtige Fragestellung verbirgt: Halten wir einander nur noch pastellig aus oder ist der Blick auf das Positive eigentlich eine notwendige Überlebensstrategie? Arrow Down

Vor wenigen Wochen saß ich mit meinen engsten Freunden in meinem Wohnzimmer zusammen. Es war mein Geburtstag. Das Dinner hatten wir gerade beendet und fläzten nun in der rosa Couchecke. David regte sich mal wieder tierisch auf und steigerte sich in eine Gesellschaftsanalyse hinein. Politik, Weltgeschehen, Zukunft. So was. Und ich flüsterte meiner Freundin Z. zu: „Weißt du, was alle meine Freunde gemein haben – dich eingeschlossen? Sie nerven tierisch. Wer richtig nervt, für jeden normalen Menschen eigentlich zu viel wäre und soziale Grenzen nicht einhält, der ist bei mir willkommen. Ich will einen Platz für jene schaffen, die unter anderen Umständen immer der Wohnung, der Bar oder der Dinnerparty verwiesen werden. Warum? Weil ich es absolut notwendig finde, dass wir Unangenehmes aushalten.“ Und dann schloss ich meinen Monolog ab mit: „I love my people annoying as fuck!“

Psycho-Experten

Wir leben in einer Welt, in der für jede psychologische Theorie Reels oder TikToks erstellt werden und die entsprechend für jeden zugänglich sind. Das hat gute und schlechte Seiten: So wissen mittlerweile mehr Menschen Bescheid über die Komplexitäten der eigenen Identität und die der Welt als irgendjemand vor ihnen. Die Informationen, die extrem komprimiert binnen weniger Sekunden über die unterschiedlichen Social-Media-Apps an uns rausgehen, sind zahllos. Kinder und Jugendliche haben freien Zugang zum gebündelten  Wissen der Welt wie keine andere Generation zuvor. Und dazu gehören natürlich etliche Mindset-Konzepte, wie man mit unguten Gefühlen oder unguten Situationen so umzugehen hat. Während die Eltern und Großeltern dieser Generation Begriffe wie „Coping- Mechanismen“ erst in einer wirklichen Therapie kennenlernten, gehört diese Sprache bei ihren Kindern und Enkeln mittlerweile zum Standardrepertoire. Mehr Informationen? Daran ist nichts verkehrt, sondern es ist sogar richtig wichtig. Das Problem: Vom Lesen einer Speisekarte wird man nicht satt. Wer sich Reels mit gut gemeinten Ratschlägen anschaut und sein eigenes Leben psychologisiert, hat eben noch keine Therapie gemacht. Und das, was ausgebildete Psychologen, Psychoanalytiker und Psychiater über Jahrzehnte erlernen, lässt sich nicht in ein 20-Sekunden-Reel zusammenstampfen. Trotzdem führt diese Überflutung mit Selbsthilfe-Inhalten dazu, dass wir unser eigenes Leben anhand sich wiederholender Mantren ausrichten. Dabei wird alles Negative verbannt, indem man es mit einer Lehre auflädt. Bestes Beispiel: „It wasn’t a break-up, it was a lesson.“ Und natürlich ist das erst mal gar nicht falsch. Wer zurückblickt,  weiß, so eine Trennung ist meist wirklich eine Lehre. Dahingehend, was man will und eben nicht mehr will oder was man verrissen hat und was man super gemacht hat. Die positive Interpretation ist noch nicht das, was in eine Toxic Positivity mündet, sondern das Verneinen und Nicht-aushalten-Wollen der negativen Begleiterscheinung, die mit dem Scheitern einer Sache einhergeht. Klar kann eine Trennung eine Lehre sein, aber eben nur, wenn man ordentlich durch die Trauerphase marschiert ist und die negativen Zustände, die damit zusammenfallen, auch anerkennt. Wenn man sich wirklich beschäftigt hat mit dem, was innerhalb der Beziehung passiert ist. Der Shortcut vereitelt die Möglichkeit auf eine echte Lesson. Die erreicht man eben nicht, wenn es einem vorher nicht maximal scheiße ging und man dieses Gefühl des maximal beschissenen Zustands nicht in seinen Alltag zu integrieren versucht hat.

Toxic Positivity und Toxic Negativity in einem

Dennoch ist die Antwort eben nicht, dass es mehr Negativität im Leben bräuchte. Schaut man genauer hin, dann gibt es eine ganze Bubble an Leuten, die es sich im Gefühl der absoluten Hilflosigkeit bequem  macht. Ob nun alles eine Lehre oder alles eine Qual ist – das Problem ist das Entweder-Oder. Denn was wir viel mehr brauchen, ist die Integration beider Gefühlszust.nde. Dann verschwindet auch das langweilige „toxic“ und alles ist plötzlich wieder relativ normal. Denn eine Situation, ein Mensch, eine Gesellschaft, eine Entscheidung hat eben immer zwei Seiten: eine positive und eine negative. Die Konzentration auf das Negative kann uns lähmen, hilft aber beim Erlernen neuer Überlebensstrategien, und die Konzentration auf das Positive macht uns oberflächlich, führt aber auch dazu, das Leben leichter zu nehmen. In beiden Fällen fehlt uns eine gesunde Widerstandsfähigkeit und Toleranz Dingen und Menschen gegenüber, die wir nicht kontrollieren können. Die Lösung ist das Aushalten, nicht der Versuch der Kontrolle oder das Ergeben an den Kontrollverlust.

 

Mirna Funk
wurde 1981 in Ostberlin geboren und lebt in Berlin und Tel Aviv. Sie studierte Philosophie an der Humboldt-Universität und arbeitet als Essayistin und Autorin. 2015 debütierte sie mit ihrem Roman „Winternähe“ im S. Fischer Verlag. Er wurde mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet und war für den Aspekte-Preis nominiert. Im Mai 2022 erschien ihr erstes Sachbuch: „Who cares! Von der Freiheit, Frau zu sein“, es landete direkt auf der Bestsellerliste.