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„Unsere Bedürfnisse sind der Schlüssel“

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Welche Wünsche und welches Verlangen bringen uns dazu, das zu tun, was wir täglich tun? Wieso stehen wir morgens auf, fahren zur Arbeit, sehen fern, kaufen Dinge, gehen spazieren? Der Wirtschaftspsychologe Dr. Guido Beier beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit diesen Fragen: Warum haben Menschen Bedürfnisse – und wie funktionieren diese? Ein Interview mit dem Erfinder des „77 Human Needs“-Systems über die Kraft der menschlichen Bedürfnisse. Arrow Down

Herr Beier, Sie haben das „77-Human-Needs“-System entwickelt. Was hat es damit auf sich?

Das System der „77 Human Needs“ bietet eine Richtlinie für alle Menschen, die für andere Menschen Erlebnisse gestalten. Mit Produkten und Dienstleistungen, aber auch durch Kommunikation oder Führung. Ein Bedürfnis und ein Erlebnis sind dabei direkt miteinander verknüpft. Alle Agenturen und Unternehmen sprechen davon, die Bedürfnisse ihrer Zielgruppen zu kennen und die passenden Erlebnisse zu schaffen. Aber das Problem dabei ist: Jeder versteht unter diesen Begriffen etwas völlig anderes und das Ergebnis geht dann oft an den Menschen vorbei.

Und so lässt sich nicht zielführend arbeiten?

Genau! Es gibt natürlich schon einige Ansätze, wie beispielsweise die berühmte Bedürfnispyramide des US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow. Aber häufig sind sie unvollständig, veraltet oder es sind keine Beschreibungen für die Bedürfnisse verfügbar. Die bestehenden Systeme bilden eine gute Grundlage, reichen aber nicht aus. Damit wir aber verständlich über Bedürfnisse kommunizieren können, brauchen wir ein gemeinsames Bezugssystem. Deshalb habe ich vor etwa 15 Jahren damit angefangen, meine Gedanken dazu aufzuschreiben.

 

Wir können nicht nicht erleben. So wie wir nicht nicht kommunizieren können.

 

Wie sind Sie das Thema angegangen?

Ich habe mich erst mal gefragt: Was sind eigentlich Bedürfnisse? Und was ist ein Erlebnis? Die weit verbreitete Definition besagt, dass eine Kundenexperience die Gesamtheit aller Aktionen von Kund:innen mit einem Unternehmen ist. Diese Aussage ist ja schön und gut – aber sie erklärt nicht, was eine Experience eigentlich ist. Und hier kommen wir dann auch wieder zu unseren Bedürfnissen zurück: Meiner Meinung nach können wir Experience nur verstehen, wenn wir die menschlichen Bedürfnisse verstehen. Ein Erlebnis passiert in unserem Kopf. Dort gleichen wir ständig ab, ob wir das bekommen, was wir brauchen, ergo ob unser Bedürfnis befriedigt wird. Daraus entstehen dann Emotionen und neue Handlungsabsichten. Dieser Prozess läuft die ganze Zeit in unserem Hinterkopf ab. Wir können nicht nicht erleben. So wie wir nicht nicht kommunizieren können. Die Bedürfnisse sind der Schlüssel. Die gute Nachricht ist: Sie lassen sich beschreiben und methodisch erfassen.

Welche Antwort haben Sie auf die Frage gefunden, warum Menschen überhaupt Bedürfnisse haben?

Ich habe viel darüber nachgedacht und kann es mir so erklären, dass diese evolutionär in uns angelegt sind, damit wir unser volles Potential entfalten können. Denn Bedürfnisse sind auch Steuerungsgrößen, sie steuern unser Handeln. Das beste Beispiel ist ein klassisches Handlungsbedürfnis, nämlich die Neugier. Ohne Neugier entwickelt sich der Mensch nicht weiter und wäre sicherlich nicht da, wo er heute steht. Ein guter Hinweis darauf, ob es sich auch wirklich um ein Bedürfnis handelt, ist die Suche nach den sogenannten „Satisfyern“. Wo es viele solcher zufriedenstellenden Aktionen gibt, gibt es mit Sicherheit auch ein Bedürfnis. Auch Zerstörung ist übrigens ein sehr wichtiges Handlungsbedürfnis mit vielen „Satisfyern“. Um das zu verstehen, müssen Sie nur einen Blick auf die Gaming-Industrie werfen, da werden reihenweise immerzu Dinge zerstört.

Am Ende Ihres Arbeitsprozesses konnten Sie 77 menschliche Bedürfnisse identifizieren.

Dafür habe ich über einen langen Zeitraum rund 3000 Interviews mit den unterschiedlichsten Menschen zu den unterschiedlichsten Produkten und Services geführt. Ich habe mich dabei immer gefragt: Was wäre, wenn dieses Bedürfnis nicht da wäre? Könnten wir als Menschen dann noch existieren? Irgendwann hatte ich ein sehr gutes Gespür dafür, welche Bedürfnisse die Mehrheit der Menschen umtreibt und wie man diese in unterschiedliche Klassen einteilen könnte. Zum Schluss kamen dabei fünf Gruppen heraus: physiologische Bedürfnisse wie Atmen, Essen oder Schlafen, sensorische Bedürfnisse wie Schmecken, Riechen und Hören, aktionale Bedürfnisse wie etwa Lernen, Neugier und Bewegung, soziale Bedürfnisse wie Zugehörigkeit, Familie und Kommunikation sowie ideelle Bedürfnisse wie Gerechtigkeit, Hedonismus und Vertrauen.

Wie kann man diese Methodik als Unternehmen gewinnbringend einsetzen?

An dieser Stelle erzähle ich immer gern von einem Problemfall, an dem ich mitgearbeitet habe und der schon einige Jahre her ist. Es ging damals um eine App zum mobilen Bezahlen mit dem Smartphone. Wir haben den Fehler gemacht, das gesamte Produkt fertig zu entwickeln, ohne unsere Kund:innen zu fragen, welche Bedürfnisse die App denn eigentlich befriedigen soll. Wir hatten uns auch nicht überlegt, was denn eigentlich ein Bezahlerlebnis ist. Kurz vor dem Launch des Produkts stellte sich dann massiv die Frage nach dem Mehrwert der App, sie sollte schließlich als Produkt beworben und verkauft werden. Abgesehen von dem Vorteil, dass man kein Geld mehr mit sich herumtragen musste, ist uns aber nichts Schlüssiges eingefallen.

 

Sie hatten Ihr eigenes Produkt nicht richtig verstanden.

Ganz genau. Und das ist ein schlechter Ausgangspunkt für eine neue Kampagne. Also entschlossen wir uns, einen Schritt zurückzugehen und noch einmal zu recherchieren und Interviews mit Proband:innen zu führen. Unsere Leitfrage war: Was erleben Menschen eigentlich, wenn sie bezahlen? Und die Extrarunde hat sich gelohnt. Bei den Gesprächen kam heraus, dass es einige Bedürfnisse gibt, die beim Bezahlen ganz wichtig sind. Eins davon ist Freiheit.

Wie meinen Sie das?

Auf den ersten Blick herrscht im Supermarkt große Freiheit: Die Auswahl ist riesig, wir können uns frei bewegen und unsere Wahl treffen. Dann kommt man aber am Ende bei der Kasse an, und der Freiheitsgrad schrumpft auf null. Das heißt: Der Kunde oder die Kundin ist wie Charlie Chaplin in seinem Film „Modern Times“ Teil einer Maschine, steht am Förderband und legt seine Sachen darauf, eingekeilt zwischen Menschen. Dann ist er oder sie irgendwann an der Reihe, und das Erlebnis kulminiert in dem Moment, in dem sie oder er die Sachen hektisch in die Tasche räumt und das Portemonnaie zückt. Und das Ganze immer unter enormem Stress.

Was haben Sie daraus abgeleitet?

Ein negativer Erlebnistreiber beim Bezahlen ist die Verringerung von Freiheit, auch räumlich. Wenn man sich den Kassenbereich näher anschaut, sieht es so aus, als würden die Kund:innen wie Stiere in Boxen hineingetrieben. Die Stimmung ist immer angespannt. Wenn ich also ein neues Bezahlprodukt entwickle, dann sollte ich versuchen, diese Freiheit wiederherzustellen. Die Menschen sollten in der Lage sein, von überall aus in dem Laden zu bezahlen. Sofort wäre der Stress minimiert und die Kund:innen würden sich besser fühlen. Nur durch unsere Nachforschungen sind wir auf diese wichtigen Erkenntnisse gestoßen. Mittlerweile gibt es die ersten Anbieter, die das umsetzen.

Ihre Botschaft ist also: Es lohnt sich, die Kund:innen besser kennenzulernen!

Das sollte sogar die Voraussetzung für jedes Projekt sein. Wer zu Beginn eines Projekts Zeit investiert, um nachzuforschen, was die Zielgruppe bewegt, und dann etwas gestaltet, was diese Gedanken mit aufnimmt, kann mit der Kommunikationsabteilung und dem Marketing eine klare Geschichte erzählen. So schafft man ein Erlebnis aus einem Guss – und keine zersplitterten Experiences, wie man sie leider immer wieder sieht. Wenn ein Produkt etwas anderes ist, als die Marke es will oder das Marketing erzählt hat, dann werden die Kund:innen enttäuscht.

Wie sieht es mit der ethischen Verantwortung aus? Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen können zur Profitsteigerung auch Bedürfnisse suggerieren, die der Kunde oder die Kundin eigentlich gar nicht hat.

— Das „77 Human Needs“-System ist ein Werkzeug und so greift hier natürlich das, was man über jedes Werkzeug sagen kann: Sie können es verwenden, um etwas Gutes oder etwas Schlechtes zu tun. Vielen ist nicht bewusst, dass Menschen, die im Marketing arbeiten, eigentlich eine enorme Verantwortung tragen. Sie dürfen ihr Wissen um die Bedürfnisse anderer nicht ausnutzen, sondern müssen nachhaltig und ethisch handeln. Glücklicherweise habe ich den Eindruck, dass in unserer Branche derzeit ein Umdenken stattfindet. Verantwortung ist ein wichtiges ideelles Bedürfnis, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Und es ist unsere Aufgabe als Gestalter und Gestalterinnen von Erlebnissen, dies auch in die Kreation neuer Produkte mit einzuschreiben.

Guido Beier Portrait

Dr. Guido Beier ist Experte für Customer und Employee Experience und einer der Vordenker im Bereich der Human Centricity. Der 54-Jährige blickt auf ein bewegtes Leben zurück: In der DDR geboren, konnte Beier – nach einigen Reibereien mit dem Staatsapparat – sein Abitur nicht vollenden. Daraufhin jobbte er als Stahlgießer, Tellerwäscher, Pferderennbahnpfleger und Koch. Nach der Wende holte er in Berlin sein Abitur nach und studierte ein Semester Physik, bevor er endgültig in die Psychologie wechselte. Heute arbeitet Beier als Wirtschaftspsychologe für die Telekom und hat die Agentur DE3P gegründet. Sein Lebensmotto beschreibt er so: „Verstehe die anderen, dann verstehe dich selbst und verbessere die Welt.“