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Wie frei sind wir wirklich?

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Zur Freiheit  des modernen Menschen gehört, durch Entscheidungen die Spielräume eines selbstbestimmten Lebens auszuloten und zu nutzen. Aber wie können wir das schaffen? Arrow Down

Manche Kinderspiele vergisst man nie.

 

Vom Fangspiel bis hin zu Topfschlagen oder Kniffel: Wer spielt, fühlt sich frei.Denn Spielen verleiht Leichtigkeit. Es schafft einen unbelasteten Möglichkeitsraum innerhalb oder neben der realen Welt. Im Pendeln zwischen Ernst und Unernst, echt und Fake, Realität und Imagination vergisst man, was einen gerade noch gequält hat. Spielende Kinder trainieren nicht nur Teamgeist und Siegeswillen – sie lernen auch, was Kreativität und Freiheit sind. Sie wachsen, entfalten sich, werden älter. Dann macht es PENG, und plötzlich hat man keine Zeit mehr für Spielchen. Das Erwachsenenalter markiert meist das Ende der Spielerei – und den Beginn der bewertungsmanischen, selbstvermarktungs-orientierten Performance, die so gut wie alle Lebensbereiche umfasst. So scheint es jedenfalls. In Wirklichkeit bleibt jenseits von Systemzwängen ein gigantischer, noch viel zu wenig beschrittener Spielraum, in dem wir unsere Freiheit ganz neu entdecken können. Aber was heißt „Freiheit“ eigentlich, und wo ist ihr Platz in dieser neoliberal durchgestylten Gesellschaft?

Aus der traditionellen, Regeln, Symbole und Normen schaffenden Funktion des Spiels entspringt stets ein Überschuss an Freiheit, der sich allen Konventionen entzieht. Wenn wir von Freiheit sprechen, denken wir an unsere individuellen Möglichkeiten, durch freie Entscheidungen ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung und Emanzipation, wie wir sie kennen, ist ein Produkt von Neuzeit und Moderne. Die Aufklärer:innen des 18. Jahrhunderts priesen das autonome Subjekt, das seine Freiheit nutzen sollte, um sich vernünftig „selbstdenkend“ in der Welt zu orientieren: Es wäre das Ende aller Illusionen und Ideologien. Doch verband sich dieses Freiheitsversprechen bald mit einem zweckrationalistischen Fortschrittscredo. Die Freigeister der Klassik und Romantik rebellierten. Dichterphilosophen wie Friedrich Schlegel und Novalis hatten keine Lust, das Leben „rational“ zu berechnen und zu bilanzieren – sie wollten es poetisieren. Sie wollten das Schöpferische im Instrumentellen, das Einzigartige im Banalen bergen; die Grenzen zwischen Ratio und Fantasie, Poesie und Leben einstürzen lassen. Den Romantikern schwebte eine Gesellschaft freier Individuen als Spielraum voller neuer kreativer Möglichkeiten vor.
 

Das romantische Ideal der kreativen Selbstverwirklichung trendet immer noch.

 

Doch der Spielraum hat sich drastisch verkleinert. Ende des 20. Jahrhunderts löste der spätmoderne Neoliberalismus die moderne Industriegesellschaft ab. Mit der Liberalisierung der Märkte erweiterte sich das Spektrum der Lebensformen, Berufswege, Medienangebote drastisch. Im 21. Jahrhundert hat sich die Vielfalt an Optionen, die täglich auf unser Hirn einprasseln, in den digitalen Raum erweitert. Die Freiheit hat ihre Unschuld verloren. Sie ist für viele zum Zwang mutiert. Baby oder kinderlos, Berlin oder Jakarta, Homeoffice oder Co-Working-Space, Sky oder Netflix? Immer hat man sich zu entscheiden. Seit Freiheit vor allem Marktfreiheit heißt, muss alles optimiert werden, beruflich wie privat. Ein „Gewinn“ muss immer drin sein.

Dabei scheint der Unterschied zwischen dem, was man will, und dem, was man muss, fraglich geworden. Ganz besonders gilt das für das Arbeitsleben der „Kreativen“ der Mittelklasse, die der Soziologe Andreas Reckwitz „ästhetisch-ökonomische Doubletten“ nennt. Einerseits wettbewerbsgetriebene, erfolgsorientierte (Selbst-)Unternehmer:innen, andererseits Individuen auf der Suche nach einzigartiger Identität und authentischer Erfüllung. Wer bin „ich“, wer will ich, wer kann ich sein – privat, professionell, existenziell? Die perfekte singuläre Marke oder ein unvollkommener Mensch? Wir sind total frei, wir selbst sein zu wollen – aber nur dann, wenn wir uns ans herrschende System anpassen.

Der Mix aus Freiheitsversprechen und Imperativ der Anpassung ist absurd. Kein Wunder, dass wir überfordert sind. Unsere Freiheit wie unsere Identität, das Job-Ich wie das private Ich gehören nie nur uns allein. Jeder Wunsch nach Autonomie und Erfüllung ist – wie unser Arbeitsleben insgesamt – immer auch ein marktkonformes Design, das nie so authentisch und revolutionär ist, wie es scheint. Schließlich sind wir Teil einer Gesellschaftsordnung, die Fortschritt mit Profit gleichsetzt und Freiheit mit Selbstoptimierung. Wir sind Teil eines Systems, das so tut, als sei „höher, schneller, weiter“ immer noch die beste Wahl, trotz aller ernst gemeinten Bemühungen um Purpose.

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Doch das Leben ist kurz. Ein Leben ohne Spielräume ist ein armes Leben. Wer mit der markt- und markenkonformen Freiheit überfordert ist, kann andere Wege gehen: den Weg in die Geschlossenheit oder den Weg ins Offene. Der erste Weg ist derzeit gut frequentiert. Wer ständig die Wahl hat, aber nie weiß, ob er oder sie sich richtig entschieden hat – jobtechnisch, liebestechnisch und überhaupt –, der schließt sich einer Gruppe Gleichgesinnter an: den Woken, den Veganer:innen, den Regierungsskeptiker:innen oder den Heimatfans.

Hier sind alle Singularitäten gleich, die Mitglieder der eigenen Gruppe bestätigen sich in ihrem Gleichsein, denn die kuschelig warme Echokammer lockt mit attraktiven Vorteilen. Sie bietet nicht nur ein „Leben ohne Irritationen und kognitive Dissonanzen“, wie der Politologe Torben Lütjen schreibt. Sondern sie kompensiert auch für die zahlreichen Verluste der Spätmoderne. Sie ersetzt Solidarität, soziale Sicherheit, Hoffnung auf eine bessere Zukunft durch Stillstand.
 

Schließlich gibt es dort keinen Fortschritt mehr,  wo alle dasselbe denken und sagen.


Der Weg ins Offene dagegen scheint noch wenig beschritten. Er beginnt mit der Ahnung, dass Freiheit heute womöglich gar nicht mehr so viel mit Autonomie zu tun hat. Vielleicht heißt Freiheit eher so etwas wie: Spielräume der Begegnung offenhalten. Der tiefere Sinn von Freiheit ist Zugehörigkeit im Sinne von Gemeinschaft und Liebe, wie schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel wusste. Denn um Liebe, die ohne Bedingung ist, geht es in den Gruppen Gleichgesinnter nicht – die Aufnahmevoraussetzung ist ja eine deckungsgleiche Grundeinstellung.

Ohne Zugehörigkeit kann es aber keine positiv erlebte Freiheit geben. Wir alle sind Individuen. Aber wir alle haben etwas gemeinsam: die Conditio humana. Wir wissen nicht, woher wir kommen. Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Zwischen dem Moment unserer Geburt und dem Zeitpunkt unseres Todes eröffnet sich der größte Spielraum von allen: das Leben.

Unser Leben, das wichtigste und ernsthafteste Reality Game von allen. Wir alle entwickeln es gemeinsam, und wir spielen es gemeinsam. Wir gewinnen und verlieren, fallen hin, stehen wieder auf. Jeder Einzelne von uns und alle zusammen. Wenn wir das System ändern wollen, geht das nur im Team Mensch. Mit weniger Muss und mehr Lust. Mehr Leichtigkeit, mehr Humanität. Es ist eine Frage der „spielerischen Haltung“, des Mutes, den Thrill des Lebens auszukosten; die Gestaltungsräume, so klein sie auch sein mögen, auszuschreiten. Das Skript des Lebens ist immer offen für neue Player, neue Dialoge, neue Entscheidungen, neue Wendungen. Spielst du mit?