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Der Sinn der Welt sind wir

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In turbulenten Zeiten stellt sich die Frage nach dem Kern unserer Gesellschaft besonders dringend. Was unterscheidet uns? Und wie viel Pluralität miteinander halten wir aus? Ein Plädoyer zum Mut für Mehrstimmigkeit. Arrow Down

„Wir müssen uns jetzt noch einmal anstrengen“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor Weihnachten 2020. Fast flehentlich beschwor sie in ihrer Bundestagsrede die Deutschen, die harten Coronamaßnahmen mitzutragen. Das »Wir«, von dem sie sprach, meinte »uns alle«.

In der Coronakrise hat das Wort »wir« einen besonderen Klang. »Wir alle« sind von der Pandemie betroffen, jeder von uns kann das Virus kriegen – und es kommt auf das Verhalten von »uns allen« an. Mehr »wir«, so scheint es, geht kaum. Und doch kann man sich fragen, ob es dieses »Wir« überhaupt gibt.

In alltäglichen Zusammenhängen gebrauchen wir das Wort »wir« so häufig, dass es uns kaum noch auffällt. »Wir« sind ein Team. »Wir« halten zusammen. »Wir« sind ein Paar. »Wir« schaffen das. Wir sprechen von einem »Wirgefühl«. Oder einfach nur von einem »Wir«. Aber was genau ist dieses »Wir«? Wie entsteht es? Und wer gehört dazu?

Wenn wir von »wir« sprechen, dann betonen wir damit etwas Gemeinsames, das »uns« miteinander verbindet. Das kann ein gemeinsames Erlebnis sein, ein gemeinsames Ziel, eine Lebensform oder auch nur eine bestimmte Situation, in die man zusammen mit anderen gerät. Diese Verbindung kann sehr eng sein, wie etwa in persönlichen Beziehungen, aber auch ganz flüchtig, wie etwa zwischen Menschen, die gemeinsam in eine Notsituation geraten.

Ein »Wir« ist eine subjektive Erfahrung, es setzt anscheinend Bewusstsein voraus. Eine Ansammlung von Steinen bildet kein »Wir«, so ähnlich sich die Steine auch sein mögen. Mein Fahrrad und ich bilden ebenfalls kein »Wir«. Das »Wir« scheint etwas Menschliches zu sein, das mit Sprache zusammenhängt.

Menschen haben die Fähigkeit zur »Wir-Intentionalität«, wie Philosoph:innen es nennen: Sie können sich gemeinsam auf Gegenstände, Sachverhalte, Ziele oder Werte beziehen. Eltern kümmern sich gemeinsam um ihr Kind. Fans feuern gemeinsam ihr Team an. Menschen arbeiten gemeinsam an einem Projekt. Oft ist es gerade diese kollektive Gerichtetheit auf etwas, die ein »Wir« überhaupt erst entstehen lässt: Menschen erleben gemeinsam etwas, teilen Ziele oder Werte.

Vormoderne Gemeinschaften beruhten auf einem unhinterfragten Gefühl der Zugehörigkeit, das in familiären, lokalen oder religiösen Bindungen wurzelte. Die Geborgenheit forderte allerdings einen Preis, nämlich den »Verzicht auf die Behauptung des eigenen Selbst«, wie der deutsche Philosoph Helmuth Plessner schrieb. Erst in der modernen Gesellschaft begann der Aufstieg des Individuums, das nach Freiheit und Selbstentfaltung strebte. Mit den traditionellen Bindun- gen erodierte auch das Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Heute leben wir in einer »Gesellschaft der Singularitäten«, so die Diagnose des Soziologen Andreas Reckwitz – in einer Gesellschaft, in der jeder möglichst einzigartig und unverwechselbar sein will.

Zu Beginn der Coronapandemie gab es eine Welle der Solidarität. Eine Zeitlang schien es, als entstünde ein neues »Wir« – ein gemeinsames Gefühl von Betroffenheit und Verbunden- heit. Die Bedrohung durch das Virus erzeugte plötzlich Nähe zwischen den Menschen, trotz des Zwangs zur Distanz. Doch je länger die Pandemie andauert, je mehr sie die Menschen zermürbt, desto mehr droht auch dieses neue »Wir« wieder zu schwinden. Vielleicht aber brauchen wir gerade in diesen Zeiten auch einen neuen Begriff von diesem »Wir«, der unserer heutigen Welt, unserem heutigen Leben besser entspricht.

„Jedes WIR birgt die Gefahr, dass nur noch das Gemeinsame zählt, dass Differenzen verschwinden.“

Von einem Wir erwarten wir oft, dass es unter denen, die zu diesem Wir gehören, möglichst viele Gemeinsamkeiten gibt. Dass wir möglichst alle am gleichen Strang ziehen. Dass wir gleichsam wie ein ICH agieren. Nennen wir ein solches Wir ein »starkes Wir« – ein WIR. Jedes WIR birgt die Gefahr, dass nur noch das Gemeinsame zählt, dass Differenzen verschwinden.

Wenn wir dogmatisch festlegen, was das WIR ausmacht, wer zu diesem WIR gehört und wer nicht, dann wird das WIR zur totalitären Einheit. Man denke an die »Volksgemeinschaft« der Nazis, an die kommunistische Klassenideologie, an manche Sekten. Der Begriff des WIRS wird problematisch, sobald wir darin eine homogene, in sich geschlossene Gemeinschaft sehen, eine Einheit statt eine Pluralität.

Das WIR ist nichts Metaphysisches. Eine Gruppe von Menschen hat kein »Wesen«, das sie zum WIR macht. Das WIR ist nicht das »Eigene«, das »Identitäre«, das ethnisch Homogene. Ein Mensch aus Syrien oder der Türkei, mit dem man täglich zu tun hat, kann einem näher sein als eine Person aus Deutschland, die man noch nie gesehen hat; umgekehrt kann einem eine deutsche Person fremder sein als jeder Migrierende.

Ein solches WIR wird der Vielfalt der Welt, in der wir leben, nicht gerecht. Vielleicht brauchen wir heute einen neuen Begriff, der zwischen dem »Ich« und dem »Wir« gleichsam vermittelt. Eine Art »schwaches WIR«, das sich selbst nicht als Totalität denkt, das nicht das Gemeinsame betont, sondern die Unterschiede – eben kein WIR, sondern ein »Wir«.

Das Wir der Menschen, die in Deutschland leben, besteht nicht darin, dass sie Deutsche sind. Es besteht auch nicht darin, dass sie einer bestimmten Kultur angehören, bestimmte Werte miteinander teilen, die gleiche Sprache sprechen. Unser »schwaches WIR« entsteht vielmehr daraus, dass wir in Beziehungen zueinander stehen, dass wir miteinander in »Kontakt« sind, wie der französische Philosoph Jean-Luc Nancy das nennt.

„Ein solches Wir beruht nicht auf einer gemeinsamen Identität, sondern auf den Unterschieden.“

Wir existieren nicht einfach nebeneinander her. Wir begegnen einander, wir haben miteinander zu tun, wir arbeiten zusammen. Diese Verbindungen müssen keine physischen sein. Ein Wir kann auch im Internet entstehen, auch in einer Facebook-Gruppe ist man miteinander in »Kontakt«, macht gemeinsam Erfahrungen, ohne dass es tiefere Gemeinsamkeiten gibt. Dieses Wir ist kein Singular, sondern eine Pluralität: Es beruht nicht auf einer gemeinsamen Identität, sondern auf den Unterschieden. Ein solches »schwaches Wir« könnten auch Personen bilden, die völlig unterschiedliche Lebensformen, kulturelle Hintergründe oder politische Auffassungen haben.

Wer zu diesem Wir gehören will, der muss auch die Pluralität respektieren, die er oder sie selbst für sich in Anspruch nimmt. Das erste Kriterium schließt all jene aus, die sich völlig von anderen abschließen, das zweite hingegen jene, die ihre eigenen Vorstellungen von einem WIR gegen andere durchsetzen wollen. Für abgeschottete Parallelgesellschaften und totalitäre Dogmatiker:innen, von Rechtsextremist:innen bis zu Islamist:innen, ist in einem »schwachen Wir« ebenso wenig Platz wie für rücksichtslose Egoist:innen, die nur an den eigenen Vorteil denken. Zugleich aber bietet dieses Wir viel Raum für unterschiedliche Perspektiven, ja sogar für Konflikte, solange das Verbindende überwiegt. So können wir vielleicht auch das Wir in der Coronakrise verstehen, die zwar alle betrifft, aber eben nicht alle in gleichem Maße.

Die Identität dieses Wirs besteht gerade in seiner Pluralität. Es gibt keinerlei übergeordneten Sinn, der dieses Wir zusammenhält. Ein solches Wir garantiert lediglich die Vielfalt. Aber
wie können wir uns dann mit einem solchen Wir »identifizieren«? Die Antwort lautet: Indem wir gemeinsam für diese Pluralität, für dieses »schwache Wir« kämpfen. Und zwar auch gegen all jene, die im Namen eines »starken WIRS« die Vielfalt zerstören wollen. Das plurale Wir bekommt seinen Sinn dadurch, dass wir es wichtig nehmen, damit jeder seine eigene Vorstellung vom Leben,
und damit auch seine konkrete Idee vom Wir, realisieren kann. Das plurale Wir konstituiert sich selbst wiederum aus einer Pluralität von Wirs. In den Worten von Jean-Luc Nancy: Der Sinn der Welt sind wir – nicht WIR.

Thomas Vašek: geboren 1968 in Wien, hat Volkswirtschaft und Mathematik studiert. Seit dreißig Jahren arbeitet er als Journalist und Autor, heute lebt er in München. Außerdem ist er Gründungschef- redakteur der Philoso- phiezeitschrift „Hohe Luft“ und schreibt Bücher, zuletzt erschie- nen: „Schein und Zeit“ (Matthes & Seitz, 2019). Für das mPaper hat sich Vašek in einem Essay Gedanken zur Ver- bundenheit unter den Menschen gemacht.