Sind Google und Kirche die größten Wir-Maschinen unserer Zeit?
Mitarbeitende internationaler Techkonzerne sind oft stolz auf ihre jeweilige vortreffliche Unternehmenskultur. Denn Gigakonzerne wie Google schüren Gemeinschaftsgefühle, wie es sonst nur Religionen tun. Was die katholische Kirche und Google unterm Strich wirklich gemeinsam haben? Ein Vergleich in vier Akten.
Fast genau 2.000 Jahre nach Gründung der katholischen Kirche, im Jahr 1998, riefen Larry Page und Sergey Brin die Firma Google ins Leben. Mit ihrer Suchmaschinen-, Werbungs-, Browser-, Videoplattform- und Mobilbetriebssystemsparte unterstützt Google heute Menschen bei den unterschiedlichsten Bedürfnissen in allen Lebenslagen. Egal wobei, Google ist dabei. Ähnlich wie die katholische Kirche die Gläubigen von der Taufe über die Heirat bis in den Tod mit Sakramenten, Gebeten oder Gottesdiensten versorgt, begleiten Google-Produkte ihre Nutzer:innen immer und überall. Diese Allgegenwart macht Google ganz im Sinne des griechischen Wortes katholikós (allgemein, das Ganze betreffend, durchgängig) katholisch. Sowohl die Riten der katholischen Kirche als auch die Dienste von Google sind fest im Leben vieler Menschen verankert. Das sichert beiden Institutionen Reichtum und Einfluss.
1. Finanz- und Sozialkapital
Die Kirche, die im eigenen Staat Vatikanstadt residiert, besitzt weltweit Konten, Unternehmensanteile und Immobilien, darunter Kirchengebäude mit Kunstschätzen und Luxuswohnungen in Metropolen. 2018 zählte die katholische Kirche rund 1,3 Milliarden getaufte Mitglieder. Das ist dreimal weniger als Google Nutzende hat. Laut Statista hält die Google-Suchmaschine seit 2010 durchgängig rund 90 Prozent des Marktanteils im Suchmaschinenmarkt. Im Jahr 2020 nutzten rund 4,4 Milliarden Menschen das Internet, darunter verzeichnete Google nahezu 4 Milliarden User:innen. Und Anfang 2021 galten Google.com und YouTube.com als beliebteste Websites überhaupt. Diese Popularität macht Google reich. Bevor das Unternehmen 2015 zur Sparte von Alphabet Inc. wurde, wies es ein Vermögen von 131 Milliarden US-Dollar aus. Alphabet kontrolliert inzwischen mehr als die doppelte Summe, rund 273 Milliarden US-Dollar. Über den Finanzstatus der katholischen Kirche kann nur spekuliert werden, da ihre immense politische Macht sie davor bewahrt, ihre Vermögendaten offenlegen zu müssen.
Der Schlüssel zu Ruhm und Reichtum ist der starke Zusammenhalt des Personals, besonders des Führungspersonals von Kirche und Google. Die Kirche betreibt seit über 2.000 Jahren, Google seit über 20 Jahren ausgeklügelte Cliquenwirtschaft. Beide Großmächte generieren ihr Finanzkapital über ihr Sozialkapital. Laut dem Soziologen Pierre Bourdieu besteht soziales Kapital aus der Macht, die Einzelne aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beziehen. Um die eigene Gruppe zu stärken, die individuelle Vorteile garantiert, bauen Mitglieder neben engen Freundschaften zusätzlich lose Beziehungen auf. Starke Beziehungen ermöglichen es, in guten und schlechten Zeiten auf Vertraute zu setzen. Lose Kontakte, etwa zu Menschen mit nützlichen Berufen, erlauben es, neuartige Informationen zu gewinnen, Kontakte zu Externen zu bekommen oder Lobbying zu betreiben. Geschicktes Beziehungsmanagement bringt einzelne Organisationsmitglieder oder die ganze Organisation statusmäßig und finanziell voran.
2. Die ewig Gleichen
Der Aufbau von sozialem Kapitel fängt beim Recruiting des Spitzen-Personals an. Bei der Kirche gelangt nur ein Geistlicher in die herausragende Position des Bischofs, Kardinals oder Papstes, der die weltweit besten Hochschulen, etwa die Päpstliche Diplomatenakademie in Rom, mit Bestnoten absolviert hat und im Verlauf des strikt vorgegebenen Karrierewegs starke Seilschaften gewoben hat. Was die Diplomatenschule für den Vatikan ist, ist die Stanford University im Herzen des Silicon Valley für den Suchmaschinenkonzern. So fischten die Stanford-Doktoranden und Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin bereits ihre ersten Angestellten an ihrer Alma Mater ab. Freunde und Gleichgesinnte arbeiteten für die junge Firma, die in einer Garage logierte, die Susan Wojcicki gehörte, der heutigen CEO von YouTube. Bis heute fördern Alphabet und andere Silicon Valley-Konzerne Nachwuchswissenschaftler:innen von der Stanford University und anderer Tophochschulen, um sich damit den Zugriff auf Talente zu sichern. Wie im Vatikan weiß man es auch bei Google zu schätzen, wenn die Neuzugänge die Interessen des Altpersonals teilen und ihm ähnlich, in der Regel männlich, bestens ausgebildet und in der Szene vernetzt sind. Wer sich ähnelt und sich seit dem Studium oder längere Projektarbeit gut kennt, fördert sich gegenseitig. Nur wer der Clique entstammt, erhält überhaupt die Chance auf eine Leitungsposition.
Werden Externe angeheuert, dann in der Regel Personen, die von den eigenen Leuten empfohlen wurden. Am besten teilen die Bewerber:innen die Maximen des neuen Arbeitgebers bereits bevor sie Institutionen wie der Kirche oder Google angehören. Im Idealfall stammen Noviz:innen aus gut katholischem Elternhaus und sind potentielle Noogler (New Googler) bereits googly, also intelligent, tech-affin, kreativ und kommunikativ, bevor Google sie anstellt. Sind Neulinge in Herkunft, Alter, Bildungsgrad und Haltung den Menschen in der Organisation gleich, erleichtert das deren Integration und Lenkung. Eine gemeinsame Ansicht, Sprache und Jargon betonen den Cliquenzusammenhalt. Vertraut wird dem Vertrauten. Deshalb setzt sich gerade in Führungsetagen Vielfalt so schwer durch. Die Kirche fährt seit 2000 Jahren gut damit, Diversity völlig zu ignorieren.
3. Verwöhneinheiten
Um einmal gefundene, in die Organisation passende Talente langfristig, gern lebenslänglich, zu binden, betreiben die Personalmanager:innen von Kirche und Google erheblichen Aufwand. Sie verwöhnen Mitarbeitende mit Geschenken, Gemeinschaftsveranstaltungen, Bildungs- oder Freizeitmöglichkeiten. Neue Kircheninterne erhalten ein neues, voll eingerichtetes Zuhause und ein strikt geregeltes Leben in der Gemeinschaft. Sie haben sich an feste Arbeits-, Gebets- und Gottesdienstzei- ten zu halten, sodass kaum Zeit für anderes und die Außenwelt außen vor bleibt. Auch Nooglern wird bei der Wohnungssuche geholfen. In ihrer Freizeit können sie sich einer von vielen Google-Gruppen anschließen: der Gruppe für Angel-, Fotografie- oder Hundebegeisterte, für Minderheiten oder Fans bestimmter Filme, Serien und Games. Ziel solcher Einbeziehungsmaßnahmen ist es, Neue rasch googly zu machen, sie spielerisch auf die Firmenziele einzuschwören und zur Hingabe an den Konzern inklusive freiwilliger Überstunden zu verführen. Zu dem Zweck dienen auch Perks – kostenlose Wohlfühlgaranten wie firmeneigene Friseure, Massagesitzungen, Wäsche- oder Auto- waschdienste, Tischtennisplatten, Tischfußball- oder Billardtische, Kantinen mit bestem Essen oder Fahrdienste. Und selbstverständlich erhalten Angestellte die neuesten Google-Produkte stets als Erste. Bei Kirche und Google wird das Personal in einen Wohlfühlkokon eingehüllt.
Wer in geschlossenen Cliquen lebt und arbeitet, nimmt deren Mitglieder, Ziele und Ereignisse wesentlich wichtiger als den Rest der Welt. Es entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, aber auch ein Gruppendruck, der die Mitglieder starker Cliquen dazu bringt, sich von selbst an interne Normen und Gepflogenheiten anzupassen. Wer die Clique kritisieren oder gar gegen sie aufbegehren würde, würde sich nur selbst schaden. So jemand würde sich selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Deshalb gibt es in Organisationen wie der Kirche oder Google kaum Nestbeschmutzer.
4. Verführung zum Glauben statt
zum Denken
Glauben Angestellte der katholischen Kirche an die Kirchenlehren, an die Dreifaltigkeit oder das Leben nach dem Tod, so stärkt sie das in ähnlicher Form wie Google-Mitarbeitende, die an die überlegene (Moral-)Philosophie und die Produkte der Firma glauben. Glaube hat mit Verstand wenig zu tun. Wer- den Kirchenbesuchende mit Gesängen und Weihrauch betäubt, erfüllen die kostenlosen Dienste von Google denselben Zweck. Gratisangebote umnebeln den Verstand der Nutzenden. So übersehen sie, dass die Firma immer mehr persönliche Infor- mationen über sie gewinnt und sie darüber immer besser manipulieren kann.
Starke Wirbotschaften verheißen Sicherheit und Geborgenheit für die internen Mitglieder einer Organisation ebenso wie für Externe. Besonders während Krisen suchen Menschen Stärkung und die Nähe anderer. Die einen finden sie im Gottesdienst in der Kirche und die anderen im Austausch auf Social-Media-Plattformen, bei Chats oder Videokonferenzen. Kirchen und die Internetangebote bekannter Firmen wirken vertrauenswürdig. Sie spenden Trost in schwierigen Zeiten. Sie geben Menschen das Gefühl, zu einer größeren Einheit zu gehören – und nicht allein zu sein.
Gisela Schmalz studierte Philosophie und Volkswirtschaftslehre. Als Professorin lehrt sie heute Strategisches Management und Wirtschaftsethik. Sie fotografiert Menschen und schreibt Sachbücher zu wirtschafts-, technologie- und gesellschaftskritischen Fragen, darunter „Cliquenwirtschaft. Die Macht der Netzwerke: Goldman Sachs, Kirche, Google, Mafia & Co.“ (2014) oder „Mein fremder Wille. Wie wir uns freiwillig unterwerfen und die Tech-Elite kassiert“ (2020). Für das mPaper wirft sie einen aktualisierten Blick auf ihre Thesen aus dem Buch „Cliquenwirtschaft“.